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Musik und Text


Die Symbiose von Musik und Text besteht in irgendeiner Form immer, für Haydns 'Instrumentalmusik über die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze' liegt sie exemplarisch auf der Hand. Seine musikalischen Intonationen des Paradieses, des Leids, der verrinnenden Zeit, um nur einige zu nennen, sind geradezu buchstäbliche Übertragungen von Bedeutung in musikalische Gestalten, und sie mußten prägnant sein, um Eintönigkeit zu vermeiden. Zuerst ist die Komposition also Notentext, denn Improvisation gehört nicht zu ihrem Konzept.

Die Themen der einzelnen Sätze sind darüber hinaus wie Liedtexte entwickelt. Noten sind lateinischen Silben der Bibel als Träger zugeordnet, ohne daß sie gesungen werden sollen. Haydns Musiken begleiteten illustrierend und meditativ die Karfreitagsandacht seiner spanischen Auftraggeber im Jahr 1787, indem sie jeweils auf Texte von Lesungen und Predigten folgten. Im Sinne von Text als Kontext strukturierten sie außerdem den Ablauf der Zeremonie. Ihre zeitliche Dauer wurde bestimmt vom Gang des Geistlichen zur Kanzel, um seine nächsten Worte zu sprechen und der Zeit, die er zur Meditation der vorangegangenen als angemessen vorschrieb. Insgesamt hat das Werk eine musikalische Dramaturgie, die dem theologischen Kontext entspricht. Haydn betrachtete seine Aufgabe als "keine von den leichtesten" und hielt das Werk für eines seiner gelungensten.

Die Interpretation des Werkes wirft sofort Fragen auf: Wann und wo soll es gespielt werden, wie geht man mit Instrumentarium und Spielweise um, wieviel Kontext soll transportiert werden? Der Notentext übermittelt nur pauschale Tonhöhen, Phrasierungen, Zeit- und Längenverhältnisse. Die Fragen verweisen deshalb wieder auf Texte zur Aufführungspraxis und auf historische und philosophische Quellen: wie behandelt man die Hinterlassenschaft eines Menschen, der dieser einen hohen emotionalen Wert beigemessen hat? Was kann man unter Tradition verstehen? Wie konservativ und wie innovativ soll man eine Tradition aufnehmen, damit man sie ihrem Sinn gemäß als eigene Erfahrung und Lebenshilfe wertschätzen kann?

Wenige Musiken widersetzen sich Beliebigkeit, Gefälligkeit und dem Ignorieren von Texten und Kontexten so sehr wie diese Komposition Joseph Haydns.
Rudolf Conrad